Eine der überraschenden Erfahrungen dieser período especial en tiempo de paz, wie die Kubaner sagen, hier durch jenen Virus, der am Anfang Corona hieß, ermöglichte die Deutsche Nationalbibliothek, die Rede ist von Leipzig.
Zur Wiedereröffnung Anfang Mai wurde für 100 Plätze am Tag ein Buchungssystem eingeführt. Nur tageweise und eine Woche voraus, dann aber 9-22 Uhr bzw. 10-18 (Sa), konnte man ein Ticket für einen Platz in der Bibliothek buchen. Für den Sonnabend war das einfach, man musste nur um neun Uhr dran denken, was genau eine Woche später sein soll! Für Montag bis Freitag wurde es challenge. Denn kurz nach dem Start des Buchungsystems lief das etwa so: Pünktlich um 9 Uhr ging die Anmeldeseite online. Vorher zu lunschen, ob man eine eventuelle Verfrühung für sich ausnützen könnte, blieb falsche Hoffnung. Von 9.00.00 bis 9.00.10 oder auch 9.00.20 – es wurde immer verrückter – konnte man mit fliegenden Fingern ein Kästchen klicken, herunterscrollen und mit einem weiteren Klick den Wunsch abschicken. Der erste Schuss musste sitzen – dann war man drin oder nicht.
Im positiven Falle waren dann die Personalien einzutragen und die Buchung zu vollenden. In negativen meldete der Server ‚gerade nicht erreichbar‘ oder etwas in der Preislage. Mir ist passiert, dass es 25 sec nach High Nine zu spät war. Nochmaliger Beginn ergab in diesen Fällen die unfreundliche Mitteilung reserviert. Den Verlierern blieb die Hoffnung, dass es noch einmal zurück gehen würde. Solche Sekunden langen Rücksprünge vom reserviert zum leeren Kästchen soll es gegeben haben, war im Haus zu hören, wo die Prozedur umgehend zum beliebten Thema des Smalltalks wurde. Ich habe es nicht erlebt.
Im negativen Fall war nur noch ohnmächtig zu verfolgen, wie 9.02 und 9.03 zuerst der Musiklesesaal, dann der Museumslesesaal, auch mal umgekehrt, von reserviert auf ausgebucht umschaltete. Der Hauptlesesaal folgte 9.06 oder 9.07; mir blieb verborgen, ob das lediglich auf die lahme Kasse ging oder ob abgebrühte Zocker sich Zeit ließen, nachdem sie sich einmal drin wussten. Ich zog immer, wenn ich schnell genug gewesen war, voll durch und hatte das Ticket schon 9.01 oder 9.02 heruntergeladen, sicher ist sicher.
Was für eine Verheißung. Exklusivität! Wir gingen vier Wochen lang also als Mitglieder des Ordens des unbedingten Lesen-Wollens, des Ordens der Schnellen und Pünktlichen in das Haus mit den neuerdings absonderlich glänzenden Tischen. Wertet der Vorgang diese Bibliothek nicht wunderlich auf? Ein limitierter Zugang und in Sekunden ausverkauft, geradezu wie ein Sting-Clubkonzert oder sowas. Und das für (überwiegend) die Studia humanitatis, die unwichtigen, weggesparten, überflüssigen. Ein unerwarteter Riss in der Geschichte tat sich auf, und es schien Licht herein; Achtung Ironie.
Wie man sich in der DNB derzeit zu bewegen hat, ist leicht vorstellbar. Der Arbeitsplatz, der kostbare, ist nur mit Maske zu erreichen und ohne Grund nicht zu verlassen, ausdrücklich. Es ist mit Abstand viel ruhiger dort als sonst. Jeder zweite Tisch ist besetzt, es sind drei Meter bis zu Nachbarn nach vorn, nach hinten, zur Seite. Keine dieser irrsinnig lauten neuen Apple-Tastaturen dringt noch durch den Ohrenschutz. Herrliche Zeiten nicht ganz, Bestellungen dauern fünf Tage.
Da die meisten Leser am Vormittag beginnen und den bürgerlichen Feierabend pflegen und die Wache sich abends aus dem Lesesaal zurückzieht, war ich binnen einer Woche einmal ganz allein in diesem herrlichen Lesesaal – und dachte an Rilke und seinen Notizen aus der Pariser Nationalbibliothek (Laurids Brigge) –, und einmal saß auf der Seite gegenüber als einzige noch eine fesche Dame, Mutter, wie ich zufällig weiß, mehrerer Kinder, deren lärmige Abendtrubel sie offenbar gut betreut wusste. Hier – traf uns kein störender Laut.
Das morgendliche High Nine hat die DNB nach einem Monat bewogen, den Tageszugang bis 17 Uhr zu begrenzen und Abendtickets ab 18 Uhr zu vergeben. Das macht alles wieder schnöde und lasch: Komm ich tags nicht, komm ich abends. Es wurde nun abends voller. Seit langem hat die Bibliothek vor allem die jüngeren Leute eher vertrieben, der internationale Online-Zeitschriften-Zugang ist einfach erbärmlich; nun gut, das gehört nicht zum Sammelgebiet. Will sagen, nach 20 Uhr waren früher noch eine Handvoll, höchstens zehn Benutzerinnen im Hauptlesesaal. Das sind jetzt deutlich mehr, auch der Abend war wiederholt ausgebucht. Allerdings blieb das Tagesticket weiter rasend schnell weg.
Vorbei jedenfalls die schöne Zeit am Abend, allein oder zu zweit im Lesesaal, nie wieder. Man verzeihe die Clickbait-Überschrift, es sollte mal sein, und den Scherz mit dem Gedankenstrich dazu, den ohne diese Bemerkung nicht einmal Freunde von Heinrich von Kleist und des ‚berühmtesten Gedankenstrichs der Literaturgeschichte‘ bemerkt hätten. In der periodo especial darf man das, dachte ich, als ich mal wieder High Nine verpasst hatte.