Nachtrag zur Buchmesse. Am deutlichsten sei sie ihm erschienen als Bühne, resümiert Lothar Müller in der Süddeutschen Zeitung die Leipziger Buchmesse. Dem kann man zustimmen, eine Ergänzung scheint angebracht. Wenn wir einmal das Bühnenbild genauer betrachten, so fällt wiederum einen Zahn schärfer als in vergangenen Jahren auf, wie Trivialität und Promibuch die Erscheinung des Rundgangs – ohne die Spartenquartiere – dominieren. Nicht mehr Rowohlt und Suhrkamp oder jüngere Literaturverlage bieten seit Jahren schon die stattlichen Auftritte, sondern publishing houses voller minderer Textsorten und Kochbücher.
Die gab es schon immer, doch sie rücken ökonomisch bedingt vor, sie beeinflussten das Klima des Gesamtbildes schneller zunehmend. Wie die Macht auf den Märkten für Produkte des Lesens verteilt ist, spiegelt am besten die Tatsache, dass auf so einer Buchmesse die Zeitungsverlage die größten Stände kaufen. Pluralität des Angebots? Das eine für diese wie das andere für jene? Das ist der Irrtum.
Auf der gleichen Seite der Süddeutschen Zeitung erschien ein Artikel eines Göttinger Germanisten, der den Befürchtungen, es werde immer weniger gelesen werden, eine Absage erteilt. Seine Perspektive: Individuell, allein, werde erst seit 200 Jahren gelesen und heute so viel wie nie zuvor. Die digitale Entwicklung würde daran nichts ändern: Ohne Literalität käme man nicht mehr durch. Es sei doch wunderbar, wie man die Texte auf seinem Reader mündlich kommentieren könne. Quintessenz, wie ich sie verstehe: Unmengen von Literatur entstehen durch Facebook, und gelesen wird sie ja vielleicht auch, glückliche Zeiten.
Um zwei Differenzierungen möchte ich bitten, wenngleich auf Kosten eines sarkastischen Fazits. Erstens ist das Lesen nicht deshalb in Gefahr, weil nun Literatur oder allgemein Schriftliches in digitaler Form existiert. Sondern weil die ikonischen und akustischen Potenzen der Mediensysteme insgesamt die Sinnesorgane effektiver bedienen können als mit Schrift. Die Spezies spart sich die Zeit des Lesens, wenn sie die Informationen parallel und schneller erfährt. Warum hören Leute heute Bücher? Nicht weil sie nicht lesen könnten, sondern weil sie dadurch Zeit gewinnen.
Die Spezies neigt zur Effektivisierung, zur Raffung – Ökonomisierung – auch der Sinne. Das heißt, Lesen und Schreiben könnten sich zu Formen von Programmierung zurückbilden, die einfacheren und schnelleren Operationen als Basis dienen. Wie heute kaum jemand HTML beherrscht oder Java, sie jedoch täglich benutzt, so wird dereinst auch das Lesen und Schreiben benutzt werden – aber man muss es als Normalmensch nicht mehr können, da die Ergebnisse, die Informationen in Bildern und Tönen viel effektiver aufzunehmen sind. Das heißt, nur noch technische und kulturelle Eliten werden lesen und schreiben und den anderen zeigen, was sie für nützlich erachten. Gewiss wird sich ein Rest Lesen halten müssen. Wir sind auf dem Weg.
Restlesen. Die zweite nötige Differenzierung bereitet mir schon heute Unbehagen und missliche Stunden. Lesen kann als Umgang mit intensivierten Sprachstücken, als Literatur, mehr sein als Aufnehmen von Informationen. Das Bewusstsein einer Form von Literatur ist zwar noch nicht ganz verschwunden, doch auch hierbei wirkt die Ökonomisierung, und zwar doppelt. Erstens (2.1.) lesen sich sprachlich ambitioniertere Texte – häufig – langsamer als andere, sie sind im Weg. Siehe das soziale Siechtum der Lyrik. Mit anderen Worten, wer heute sprachlich komplexer oder nur kompliziert schreibt, ist schon im Widerstand und wird aussterben. Haben Sie die Ironie des letzten Satzes verstanden?
Zweitens (2.2.) hat die weniger langfristige, real existierende Ökonomie, die der Leseobjekte, längst dazu geführt, dass gut geschnittene und dramatisierte Krimis als beste Literatur gelten, selbst wenn sie sprachlich journalistisch daherkommen. Masse macht Qualität, die Sitten sind bereits verkommen. Selbst gut beleumdete Verlage pushen Bücher, von denen ihnen bekannt ist, dass sie unter das Niveau der Pop-Literatur der 90er Jahre tauchen. Vom neuen Format der „Blogger-Literatur“ zu schweigen.
Kurz: Das Bühnenbild der Leipziger Buchmesse spiegelt nicht nur Prozente und Promille im Buchmarkt, sondern auch eine Tendenz der Texte, die in ihnen funktionieren – so oder so.
Die wenigen Stimmen, die sich dagegen in der Literaturkritik erheben, verschwinden im Sound vom „besten Roman der Saison“, der nun wiederum auf die großen Buchmessestände der Zeitungsverlage passt. Ein ums andere Mal bin ich gutgläubiger Mensch in den letzten Jahren solchen Leserattenfängern auf den Leim gegangen, schlimm, dass ich in gelegentlich zu ihnen gehöre.
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