Ein schöner Aphorismus von Stanisław Jerzy Lec (aus ‚ehemaligen’ Jahren) geht etwa so: Man klagt immer über die Zeiten: Ach, in was für Zeiten leben wir! usw. Bis man eines Tages aufwacht und merkt, es sind nicht die Zeiten, es ist das Land. Wieso fällt mir das ein? Das Paulinum wird morgen also eingeweiht, es folgen am Wochenende eine weitere öffentliche Besichtung und der Festgottesdienst. Als die Rektorin, der Kustos, der Prediger-Professor und der Musikdirektor der Universität in der vergangenen Woche die Presse einluden, versammelte man sich auf der Orgelempore und fühlte sich unter dem weißlichen Kreuzgewölbe tatsächlich – zumindest ohne Brille – wie in der Nikolai-Kirche.
Es ist schon bitter, was sich neuerdings Architektur nennt, es lohnt nicht Aufregung und Bemühung. Ich notiere hier nur die niederschmetternde Erfahrung, dort eine Stunde zu sitzen. Unten im ‚Schiff’ fühlt der Bau sich weniger kitschig an, die Höhe und Weite schaffen Licht und Luft – womit die meisten Besucher schon zufrieden und also begeistert sind.
Das wäre dann das Positive: Die Raumhülle holt die Kirche St. Pauli aus dem Schutt. Ich hätte es nicht gebraucht. Schon lange bin ich mir sicher, dass die wichtigste Funktion all der heute so opportunen Bemühungen, das Unrecht der Vergangenheit zu bedenken, eine disziplinarische ist, die das Unrecht der Gegenwart verkleistert.
Aber es gibt Leute, die finden das gut. Mag sein, dass sich im Paulinerverein seit 1992 viele trafen, die die Willkür der Sprengung erlebt hatten oder anders ehrenwerte Motive hatten; auch der naive Wunsch nach ‚originalem’ Wiederaufbau mag verzeihlich sein. Doch was danach geschah, ist einfach nur dämlicher Revanchismus (wo kommt denn wohl dieser Begriff jetzt her?).
Gerade für artour wieder mit dem Paulinum/der Universitätskirche befasst, ging mir ein historischer Vergleich nicht aus dem Kopf. Man stelle sich die Etappe von 1968 bis 2017 vor und rekapituliere nur 1868-1917 und 1768-1817. Es sind Revolutionen dazwischen, Neuaufteilungen der Welt, Kriege, in jedem Falle radikale Kulturwechsel. Gewiss sind das noch biographisch bewusst erlebbare Strecken, insofern ist die Tragik programmiert. Man stelle sich vor, 1817 und 1917 ist im Geiste von 1768 und 1868 gehandelt worden – was für anachronistischer Quark jeweils. Genau das ist jetzt mit dem Paulinum passiert.
Man kann wohl nicht sagen, dass der Zeitgeist gerade besonders frömmelt. Der Papst heimst Sympathien ein, doch eher mit seinen sozialen Mahnungen als im engeren Sinne religiös. Dass ein Architekt also tatsächlich so einen Innenraum wie die frühere Universitätskirche unangetastet lässt und sogar Reminiszenzen an gotische Spätstile anklingen lässt, dass er der Universität also eine Kirchenhülle als Aula verkauft, mag einfach nur unbedacht sein. Es ist ein Resultat der unerbittlichen ‚Erinnerungskultur’ einer solchen Truppe wie dem Paulinerverein und seiner Unterstützer.
Der Bau ist deshalb wohl eher orts- als zeittypisch. Ortstypisch ist nämlich, wie so plumpe und grobe Positionen die öffentliche Diskussion bestimmen können. Das ist die Tragik: Es gibt keine öffentliche Diskussion in Leipzig. Wenn ein Thema öffentlich wird, fällt es in die Hände der Leipziger Volkszeitung, und dann ist es verloren – beziehungsweise wird in der plattest möglichen Weise nach Herrschaftsgusto popularisiert. Die Herrschaft förderte verständlicherweise alles, was der SED-Willkür usw. die Stirn zu bieten verspricht. Dass, was das Paulinum angeht, die christlich-sogenannte Landesregierung auf Anregung des Paulinervereins die freie Universität in der SPD-Stadt erpresste und letzthin den heutigen Unfug möglich machte, habe ich vor Jahren notiert.
Ein schönes Thema für eine journalistische Bachelorarbeit könnte sein nachzuforschen, wie versucht wurde, öffentlich zum Beispiel den Kustos der Universitätssammlungen einzuschüchtern, weil er nicht machte, was der Paulinerverein wünschte. Als eine Journalistin die Rektorin jetzt fragte, und zwar in einem Ton, als mache die etwas falsch, warum die Einweihung des Paulinums durch die Universität nicht mit dem Festgottesdienst zusammen erfolge, argumentierte die Rektorin tatsächlich mit Platzmangel. Sie sagte nicht, dass das wohl zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Es sind nicht die Zeiten, es ist der Ort.
Vor diesem Leipziger Hintergrund ist so etwas wie das Paulinum verständlich. Die frühere Musik-, Buch- und Universitätsstadt entwickelt sich, jedenfalls wie es der derzeitige ‚öffentliche Diskurs’ widerspiegelt, weiter zu einer geistfernen Rasenball-, Porsche- und Amazon-Stadt. Daran wird auch Paulus mit dem Schwert nichts ändern, der mit dem Haupt-Altar fast an die alte Stelle kam und gleichsam Andachtsraum wie Längsstreckung der Aula präsidiert.
Bestimmt finden sich demnächst ein paar unbelehrbare Studierende, die nicht wollen, dass ihre Aula nach diesem Erlösungskämpfer benannt wird, der nach seiner Konversion vom Christenjäger zum Juden- und Heidenmissionar bekanntlich auch vielen Türken und Arabern den Weg gewiesen hat. Ich stelle mir Massen-Taufgottesdienste vor, koreanische Verhältnisse… Der Raum ist bereitet… Wer jetzt denkt, na, das wäre doch das Schlechteste nicht: Vergiss es!
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