Die vorige Notiz über den Weihnachtsbaum hatte ich eigentlich begonnen, um Dieter Beckert zu danken, sie ging einen anderen Weg. Der Brachialromantiker und Symposiarch (hier die Webseite des Duo Sonnenschirm) stellte für einen artour-Beitrag vor Weihnachten seine Recherchen über die Karriere des Liedes „Oh Tannenbaum“ zur Verfügung und trug als singender Interviewpartner selbst erheblich dazu bei.
Anlässlich des Rudolstädter Musikfestes hatte er diverse Herkünfte und Emanationen des Liedes Oh Tannenbaum zusammengetragen und als inszenierte Power-Point zum Vortrage gebracht. Dies reizte zu einer kürzestgefassten Geschichte des „Oh Tannenbaum“ bei artour.
Die Karriere dieser Melodei von einer vermutlich schlesischen Geburt (Melchior Franck) zu einem Zimmermanns-Lied, anschließend zu einer preußischen Klage über untreue Frauen, schließlich nach dem Willen eines Leipziger Kantors zum treuen Grün des Tannenbaumes als Symbol des treuen Christenlichts in dunkelster Zeit, diese Karriere verblasst hinter der späteren Weltumschreitung über Amerika nach England.
Man kann – mit den Auswanderern – sachliche Gründe nennen, warum nach der Oh Tannebaum-Melodie in Michigan, Iowa und anderswo marschiert wird – als Maryland, o Maryland wurde sie sogar Staatshymne. Ebenso ist die Linie nachvollziehbar, warum anschließend Jim Connell in England damit ein markiges Arbeiterkampflied auf die Rote Fahne dichtete, das heute noch in China gesungen wird.
Bei youtube finden sich bittere englische Kommentare über den Hohn, dass diese Deutschen die Red-Flag-Song-Melodie perverserweise als Weihnachtslied singen.
Verständlich scheint auch der Weg von der englischen Labour-Bewegung in britische Fußballstadien, wo konkurrierende Klubs nach dem „Oh Tannenbaum“ ihre Vereinssongs schmettern. Red flag gegen blue flag flying high, aber gemeinsam nach „Oh Tannenbaum“.
Aber: Warum? Warum geschieht dies alles dieser Melodie? Ist sie so gleichbleich oder so neutral aber energetisch, dass es egal ist, was darauf gesungen wird? Ist sie so attraktiv, dass sie jeden Text aufzusaugen in der Lage ist? Warum aber ist das so, musikalisch verstanden? Gewiss, zum Marschieren wurde der Takt etwas angezogen, doch reichte allein das aus für so disparate Verwendungen? Die Frage ist eine nach Form und Inhalt.
Ganz zu schweigen von den vielen Verballhornungen. Neu lernte ich von Josephine und Pauline kennen: (nachdem Oma im Kofferraum sitzt) „Der Opa holt die Feuerwehr, die Feuerwehr kommt nackicht her“. Dieser Song ist noch lange nicht zu Ende gedichtet. Wer weiß, ob der Weihnachtsbaum im 19. Jahrhundert zu seiner Karriere vom Adel in das Bürgertum hinein angesetzt hätte, hätte es das Lied nicht gegeben.
Übersehen wird oft die nationale und die pantheistische Komponente. Symposiarch Beckert zeigt in seinem Vortrage Caspar David Friedrichs „Chasseur im Walde“ und interpretiert es als Bild eines französischen Invasoren, der von einer Kompanie von Tannenbäumen eingekesselt wird. Sehr überzeugend! Von Tannenbäumen! Erst der studierte Förster Dieter Beckert bringt die Kunstgeschichte auf diese Fährte – die Sorte der Bäume war bisher nebensächlich behandelt worden.
Tatsächlich muss die Popularisierung zum Tannenbaum der Weihnacht etwas mit der allgemeinen deutschen Baum-und-Wald-Metaphorik seit den Befreiungskriegen zu tun haben. Ernst Georg Salomon Anschütz, der Freimaurer, ab 1818 Kantor der Leipziger Georgenkirche, veröffentlichte den Text wohl 1824, da wogte die Welle, Caspar David Friedrichs Bild des Jägers im Walde ist zehn Jahre älter.
Aufmerksam macht Beckert ebenso auf die Vorteile, die so ein metaphorisches Lied hat: vom Grün, von der Treue, vom Baum, der in der Winterszeit erfreut, als Beispiel, das Trost und Kraft gibt. Es erzählt eben nicht von Christkind und Geburt, es kann von allen angenommen werden, die Weihnachten feiern wollen.
So ging die deutsche Wald-Mystik, das rätselhafte deutsche Wesen, über die Auswanderer in die Arbeiterbewegung und in die englischen Fußballmentalität ein. Kein Wunder, dass die – unwissentlich infiziert – in den entscheidenden Spielen immer verlieren. Aber Vorsicht, der Geist dieses Liedes verliert an Kraft, wie alles von Weihnachten.
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