Sie wollen Weiss

SIE WOLLEN WEISS

„Die Stadt der Sehenden“ von José Saramago

Was passiert, wenn politischer Überdruss die Fraktion der Nichtwähler zu Legionen wachsen lässt? Wenn nur ein paar Restwähler die Regierung legitimieren? Hauptsache, die anderen sind schön stille? Das demokratische System wäre ad absurdum geführt.

In seinem neuen Roman „Die Stadt der Sehenden“ spielt José Saramago ein ähnliches Szenarium grotesk, wundersam und verzweifelt durch. Die Bürger eines portugiesisch gefärbten Landes haben die Wahl zwischen den drei Parteien der Rechten, der Mitte und der Linken. Doch in der Hauptstadt geben die meisten einen weißen Zettel ab. Es wird für die Wahl geworben, sublim gedroht, doch die Wiederholung lässt die Zahl der „Weißwähler“ auf 83 Prozent steigen. Sie verweigern das traditionellen Reglement des politischen Spektrums. Sie wollen Weiß.

Anarchistischer Untergrund und ausländische Mächte werden als Urheber der „weißen Epidemie“ bald ausgeschlossen. Aber wo kommt sie her? Alle vom Geheimdienst Befragten berufen sich auf Recht und Gesetz, auf ihr geheimes Wahlrecht. Die „Weißen“ werden zur unkalkulierbaren Bedrohung: Denn der Bazillus könnte auf das ganze Land übergreifen. Die Nutzlosigkeit der etablierten „politischen Klasse“ (wie man hierzulande gern sagt) wäre offenbar.

Das freundliche Gesicht des älteren Herrn auf dem Schutzumschlag täuscht. José Saramago, der 1922 geborene Literaturnobelpreisträger (1998), hat eine sarkastische Parabel geschrieben. Wie gewohnt schweift er genießerisch in der Sprache umher und zelebriert girlandenhafte Dialoge. Viele Leser stört das manirierte Schwelgen, das den Fortgang der Story immer noch um ein paar Erörterungen verschiebt. Seine Leser lieben ihn gerade dafür. Einer bekannten Heldin können sie wieder begegnen und zwei der typischen Saramago-Helden kennen lernen – schicksalsgeprüft auf dem Wege zum guten Menschen. Doch das Finale ist das bitterste, das von Saramago bisher zu lesen war.

Die stille Rebellion gegen das politische System verunsichert die als völlig unfähig karikiert Regierung im Roman so sehr, dass sie sich eine neue Hauptstadt sucht. Die alte Kapitale wird vom Militär umstellt, der „Belagerungszustand“ ausgerufen. Doch obwohl die ganze Staatsmacht, inklusive Polizei, auszieht, geht das Leben in größter Ruhe weiter. Selbst ein Attentat auf eine U-Bahn-Station, den Weißen in die Schuhe geschoben, kann die Lage nicht destabilisieren. Jemand muss aber Schuld sein, denn „die Demokratie“ ist in Gefahr. Also wird jemand gefunden. Der schurkische Innenminister schickt ein geheimes Kommando in die Stadt zurück.

Der Titel knüpft auch im Original eng an Saramagos großen Roman „Die Stadt der Blinden“ (1999) an. In der damaligen Epidemie der „weißen Blindheit“ gab es eine Frau, die durch ein Wunder als einzige nicht das Sehvermögen verlor. Sie führte und rettete eine kleine Gruppe aus der Hölle der erblindeten Welt, in der Zivilität, Gesetz und Moral zusammengebrochen waren. Die „Frau des Augenarztes“ verkörperte ein nur besonderen Menschen eigenes, irgendwie naturhaft-kerniges Humanitätsprinzip. Ihr und ihren damaligen Gefährten begegnet man nun in der „Stadt der Sehenden“ wieder. Es ist unschwer zu erraten, in welcher Rolle. Wie Saramago von dieser Verkörperung seines menschlichen Credos jetzt weitererzählt, ist eine bittere Revision – und die eigentliche Sensation des Buches. In der unmenschlichen Anarchie der „Stadt der Blinden“ konnte ein Fünkchen Humanität bestehen. Die polizeilichen Maßnahmen gegen die „Stadt der Sehenden“ überlebt sie nicht.

Das Roman hat seine Schieflagen, wie eigentlich immer bei dem genialen Plauderer Saramago. Sie erscheinen hier geradezu lässig, von zwinkernden Entschuldigungen des Erzählers begleitet. Die ersten hundert Seiten kommt er – parabelhaft – ohne wirkliche Personen aus. Zu ausführlich mokiert er sich über die politischen Intrigen. Ohne das Tempo anzuheben, schnürt er jedoch in der zweiten Hälfte des Romans das Geschehen zwei, dreimal emotional zusammen.

Der „libertinäre Kommunist“ Saramago hat in der portugiesisch- und spanischsprachigen Welt große Reputation. Es überrascht nicht, dass sich eine ausgewachsene Voto-blanco-Bewegung auf ihn beruft. Doch macht wenig Sinn, „Die Stadt der Sehenden“ zu prüfen, was daran als Kritik an der Regierungsform Demokratie produktiv sein könnte. Eine Parabel darf hinten und vorne nicht stimmen. Eingedenk hiesiger Wahlverweigerungen verdient der Roman aber auch als politischer die aufmerksame Lektüre – erzählt ist er besser. (2004)

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