Man hatte vor Berlin gewarnt an diesem Wochenende mit Evangelischem Kirchentag und Fußball-Pokalfinale. Doch andere Umstände legten nahe, am Freitag in die Kunstbibliothek an der Gemäldegalerie zu fahren. Vom Potsdamer Platz aus kommend, schaltete die Ampel hinüber zur Philharmonie auf Grün, als ich noch etwa 10-15 Meter davor war, gute Aussichten eigentlich. Doch war das ohne den großen gelben LKW mit Anhänger kalkuliert, der aus der Potsdamer Straße kommend rechts um die Ecke fuhr. Die ersten Fußgänger hatte er passieren lassen, dann sah er die Lücke vor mir und fuhr resolut an. Er nahm sich, wohl wissend, wie lang er brauchen würde, die Vorfahrt. Ärgerlich, aber nicht ungewöhnlich, zumal in Berlin. Ich kam an meine Grünphase und wartete mindestens 3-4 Sekunden, unerhört. Tatsächlich ertönte in etwa der zweiten Sekunde des Wartens hinter mir ein lautes „Das ist unerhört!“, Betonung auf ‚un’. Ergänzend beschimpfte die Frauenstimme, als sie dann gleich heran war, den Fahrer mit einem tierischen Schimpfwort. Bei dröhnendem Motor und schon weit rechts wird er es in seiner Kabine nicht gehört haben, aber es musste raus.
Danach wurde es mit einem wunderbaren Beispiel ehelicher Solidarität auch richtig energisch. Der Mann, der zu der Frau gehörte, war links von uns auf den Fußgängerüberweg, ja, gesprungen, gleich wäre der gelbe Anhänger vorbei gewesen. Doch der Mann war schnell und erwischte ihn noch. Mit dem Einsatz seines Oberkörpers, den der Mann zurück bog und ruckartig nach vorn bewegte, spuckte er den unschuldigen gelben Anhänger an. Ich habe die Aule genau gesehen, und ich war entgeistert.
Dieser Vorfall verlangt einige Erklärungen. Zunächst bin ich dankbar für das Wort, das ich Jahrzehnte nicht verwendet habe. Es ist ein Wort aus der Kindheit. Angenehmer wird es dadurch nicht. Die Aule, landsch. derb für Auswurf, sie fuhr an mir vorbei und davon. Und die Familie, als die sie sich anschließend erwies – dem jüngeren Teenager war gerade ein Beispiel des elterlich-vorbildlichen Engagements gegeben worden – ging vor mir in Richtung Museumsquartier am Matthäikirchplatz.
Wohin will man dort, etwa dreiviertel Zehn am Freitagvormittag? Ich dachte nicht an den Kirchentag. In der S-Bahn war noch nicht viel davon zu sehen gewesen. Die drei trugen keins dieser T-Shirts mit der Aufschrift „Du siehst mich“ – darüber zwei Äuglein, die, wenngleich freundlicher, doch sehr an die Augen des ‚Kleinen Feiglings’ erinnern: weniger benebelt, dafür etwas dümmlich. Die Verwandtschaft des heiligen Spirits zu den geistigen Getränken war damit wohl nicht gemeint, oder der Erfinder dieses Kirchentag-Signets ist ein heimtückisches Genie. Auch die Kulleraugen von Pittiplatsch dem Liebem sind nicht weit, was in Verbindung mit einem Mose-Zitat auf den T-Shirts ebenfalls hübsch ist. Doch zurück zur Verhaltenskritik. Warum spuckt da ein Mittvierziger auf einen LKW? Wir hatten Grün, wir waren im Recht, und man tritt ein für sein Recht? Aber wie? Ist das die Verrohung, von der nun endlich allseits die Rede ist? Gegen die Gewalt des LKW, ach, sind so kleine Aulen?
Das Trio eilte tatsächlich zur Matthäus-Kirche und erreichte das Portal um 9.51 Uhr. Außerhalb des Kirchentages öffnet die Kirche eine Stunde später. Da war also was. Ging es um Pünklichkeit zu einem außerordentlichen Gottesdienst? Oder wollte eine kunstinteressierte Familie (der Junge gezwungen) vielleicht zu einer Führung in der Gilbert & George-Ausstellung dort in der Kirche? Spucken eher kunstinteressierte (die sogenannten -affinen) Eilige an LKWs oder spucken eher Kirchentagsbesucher, die zum Gottesdienst wollen? Würden wir die einen oder die anderen entschuldigen, wenn sie eilig in Wut geraten sind und zu diesem alten Stilmittel greifen, das bekanntlich schon Jesus Christus galt? Lässt der Fall zu, über parallele Motivationen aus Kunst und Religion zu spekulieren? Müsste man nicht besser noch zwischen Kunstaffinen und Besuchern von Gilbert & Georges-Ausstellungen unterscheiden? Und wo sind in dieser Erörterung die Fußballfans geblieben? Fußballer spucken auch viel, meist auf den Rasen. Übrigens: Kann es sein, dass Fußballer viel weniger abaulen als früher?
Zu viele Fragen. Die Voraussetzungen für eine souveräne Interpretation des Mannes und seiner Aule sind nicht gegeben, wenngleich von einem Zusammenhang zwischen Kirchentag und Vorfall auszugehen ist. Im ersten Moment, ich seh ihn noch vor mir, war ich entgeistert, das ist das schönere Wort.
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