Eine Fehleingabe bei der Internetsuche, Plural statt Singular, und ein Fund. Da sage noch einer, es gäbe keine Parallelgesellschaften: „Weimarer Visionen“ mit den „6. Festspielen des Denkens“, 1.-3. Oktober. Zunächst denke ich: Oje, nicht nur in den Träumen der Armen ist viel Wahn. Man schaue auf Programm, Initiatoren und Vortragende und genieße den Satz: „Unsere Referenten zeigen auf, wie wir vom Übergewicht des Habens zu einer neuen Qualität des Seins kommen.“
Zitat „Weimarer Visionen“: Stellen Sie sich vor: Menschen kommen zusammen, um gemeinsam Zukunft zu entwerfen. Stellen Sie sich vor: Menschen kommen zusammen, um einander zu ermutigen und zu bestärken. Stellen Sie sich vor: Menschen kommen zusammen, um gemeinsam neue Wege zu gehen.
Die Weimarer Visionen verstehen sich als wachsendes Netzwerk von Visionären und Akteuren, die daran arbeiten, Teil der Lösung zu sein. Um eine neue Wirklichkeit zu erschaffen, muss diese zuerst mit einem Neuen Denken und einem neuen Bewusstsein beginnen. Diesem Ziel verpflichtet, formte sich 2005 in München eine unabhängige, private Initiative. Das primäre Augenmerk liegt auf der Gestaltung der »FestSpiele des Denkens«, die jedes Jahr drei- bis viertägig in Weimar stattfinden, zentriert um den Tag der Deutschen Einheit.
Darüber hinaus werden Salons, Workshops und Veranstaltungen durchgeführt, die überraschende Inspirationen und Besinnung auf das Wesentliche vermitteln. Immer geht es dabei um die Transformation unseres Bewusstseins und unserer Gesellschaft auf die nächste Stufe. So verstehen sich die Weimarer Visionen als ein offenes Zukunftslabor, in dem im interdisziplinären Dialog ausgelotet wird, wie Leben, Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft, und Politik künftig aussehen werden.
In diesem Kraftfeld wird gemeinsam Richtungsweisendes erschaffen. Jeder Experte und Teilnehmer, der auch als Teilgeber verstanden wird, trägt im Rahmen seiner Möglichkeiten zum Gelingen des Ganzen bei. So wird Neuland betreten, das nicht nur aus der Kraft des Geistes, sondern auch aus der Kraft des Herzens und der Phantasie entworfen wird. Dieser gemeinsame Kreationsprozess ist für alle Beteiligten immer wieder höchst inspirierend, befriedigend und beglückend. Wenn das, was diese Worte nur unzulänglich ausdrücken, bei Ihnen Resonanz findet: Wir freuen uns, wenn Sie mit dabei sind!
Zweifellos hat es so etwas immer gegeben, geistige Wellness-Weekends. Das Programm 2011 unter dem Motto „Quellen der Kraft“, reiht eine Menge Wohlfühl- und Mach-dich-besser-Psychologie: „Gehirnmagie“ und „Body Blessing“, aber auch die „DNS der Champions“, Vorträge von Physikern und Buchautoren („Endlich glücklich YOU!)“. Das sind die Dinge, die die naturheilkundlich und psychosomatisch begabte Gattin besseren Haushaltsgeldes interessieren, aber auch beim Managertraining zu Rate gezogen werden. Wenn nichts mehr hilft, dann Ayurveda? Was aber bedeutet die überspannte soziale Rhetorik bis zur „Transformation unseres Bewußtseins und unserer Gesellschaft auf die nächste Stufe“?
Vergessen wir nicht, dass gewisse Gesellschaftsstrategen jegliche soziale Utopie zur Sünde mit fatalen Folgen erklärt haben. Doch ist denen diese Münchner Initiative verdächtig? Vermutlich nicht. Denn im Grunde ist die Gemeinschaft gar nicht gemeint. Weit entfernt davon, dass die Köchin den Staat regieren soll, entfällt diese aus der Utopie, die jenem gilt.
Denn: Nichts gegen die „Gehirnmagie“, aber wenn damit die Welt geheilt werden soll, bedeutet das die vollständige Kapitulation. Sie hatten alle ein Semester politische Ökonomie, aber wie wollte man sich mit ihnen verständigen? Das Spektrum der Vorträge entlarvt die soziale Rhetorik als eine Art Gutfühl-Wollen, die die partikularen Interessen einer Oberschicht bemäntelt: „Für uns Initiatoren und für viele Teilnehmer wurden die Weimarer Visionen zum geistigen Grundnahrungsmittel und zum überlebensnotwendigen Luxus, den wir uns jedes Jahr gönnen.“ Ja, gönnt euch das, im „Übergewicht des Habens“, und balde wachet ihr auf in einer auf jeden Fall eigenen „neuen Qualität des Seins“.
Das ist kurios: Die so lächerliche wie ehrenwerte Initiative ist entweder ein Indiz dafür, dass der Gesellschaftsvertrag längst gekündigt ist: Die Brechtsche Köchin fällt aus dem Programm. Oder aber umgekehrt: Da wollen ein paar gut besattelte Leute sich das Leben schöner machen und empfehlen das der ganze Welt – spricht das nicht für ihre soziale Verantwortung? Für – wenn man die Liste der Vortragenden anschaut – lächerliche 1309 Euro sind wir dabei, komplett für alle drei Tage. Und Goethe-Leser werden aufhorchen bei dem Programmpunkt: „WahlVerwandschaften – Die interaktive Nacht der Inspirationen. … mit überraschenden künstlerischen Begegnungen“.
Sind die Wahlverwandtschaften nicht das Werk, das den „mentalen Ehebruch“ zur Einübung in die Befreiung zelebriert? Bei Goethe sind da allerhand Leidenschaften im Spiel, kreuz und quer, Natur, Liebe und Sex, gegen das Gesellschaftskorsett. Aber auch Goethe kann man sich partikular aneignen…
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